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Bericht über die 22. Tagung des Arbeitskreises Tonpfeifen vom 25. bis 27. April 2008 in Forst/Lausitz

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Ralf Kluttig-Altmann

Die diesjährige Tagung des "Arbeitskreises Tonpfeifen" fand im Osten Deutschlands in der "Rosenstadt" Forst/Lausitz statt. Eingeladen hatten dazu das Brandenburgische Textilmuseum Forst und die Stadt Forst. Die Tagung stand unter dem besonderen Thema "Handel, Migration und Technologietransfer". 22 Teilnehmer aus 5 Ländern folgten der Einladung.
Traditionell trafen sich die bereits angereisten Gäste am Abend des 25. April zum ersten informellen Austausch. Das eigentliche Programm begann am Vormittag des 26. April im Textilmuseum Forst mit der Begrüßung der Teilnehmer durch den Bürgermeister Jürgen Goldschmidt, Jens Lipsdorf als lokalen Organisator und Ralf Kluttig-Altmann als Leiter des "Arbeitskreises Tonpfeifen". R. Kluttig-Altmann stellte als Herausgeber den neu fertiggestellten Band 19 des KnasterKOPF vor, einen Themenband rund um "Tonpfeifen als Grabfund". Mit 180 Seiten konnte ein Band produziert werden, der neben dem Schwerpunktthema weitere neue Funde, methodische Abhandlungen sowie historische, etymologische und archäologische Forschungsergebnisse von London bis Bern enthält.
Als ungewöhnliche Einstimmung auf die Tagung präsentierte der Forster Komponist Bernd Weinreich eine aktuelle Komposition in Welturaufführung, in welcher er die geometrische Beschreibung einer Tonpfeife musikalisch nachempfand und die vom Solisten Frank Wiethaus auf dem Violoncello dargeboten wurde.
Das Vortragsprogramm begann mit einer Vorstellung der Tagungsregion von R. Kluttig-Altmann (Leipzig) - "Die Forschungssituation in Brandenburg - eine Einführung". Im heutigen Brandenburg sind erst relativ spät Anfänge des Tonpfeifenmacherhandwerks nachweisbar. Spandau ist mit 1687 das früheste Datum, andere Betriebe wie Berlin, Weissenspring, Rostin oder Potsdam nahmen erst zu Beginn oder gar in der Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Produktion auf. Zu den historischen Nachweisen kommen zahlreiche Funde mit den Namen dieser Herstellungsorte auf Pfeifenstielen. In den letzten Jahren ist gerade im Nordosten Deutschlands bei archäologischen Aktivitäten eine erhöhte Sensibilität gegenüber diesem Fundmaterial zu verzeichnen, was sich in einer Vielzahl von Neufunden und einer erfreulich hohen Publikationstätigkeit niederschlägt, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Untersuchung neuzeitlicher Friedhöfe. Die historische Gesamtsituation zu Tonpfeifen in Brandenburg - das Geflecht aus lokaler Produktion und Einfuhr über die Jahrhunderte - bietet allerdings immer noch mehr Fragen als Antworten.

 

Anschließend stellte Sven Zuber als stellvertretender Bürgermeister die Geschichte der "Stadt Forst/L. im Laufe der Jahrhunderte" vor. Forst, dessen aktuelle Situation stark vom Braunkohlentagebau mitbestimmt wird, weist eine lange Tuchmachertradition auf. 1346 erst-mals urkundlich erwähnt, besaß die Stadt seit mindestens 1418 ein privilegiertes Tuchmacherhandwerk. Im frühen 17. Jahrhundert erhielt dieses starken Zuzug von Fachkräften aus den Niederlanden. Nach zwei verheerenden Stadtbränden Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich die Stadt bis 1900 zu einem bedeutenden Textilzentrum. Nach 1945 wurde Forst wie andere an Oder und Neiße liegende Orte plötzlich Grenzstadt - mit allen damit verbundenen Besonderheiten.
Natascha Mehler (Wien/Ö) referierte mit "Tonpfeifen in Bayern (ca. 1600-1745): Ergebnisse und neue Fragen" (1) aktuelle Erkenntnisse aus ihrer kürzlich abgeschlossenen Dissertation. Sie stellte zuerst eine rein beschreibende Typografie ihrer Funde vor und machte den methodischen Unterschied zu einer schon interpretierenden (weil mit chronologischen Aussagen verknüpften) Typologie deutlich. In der Schlussphase ihrer Arbeit war es N. Mehler gelungen, die zahlreich auf bayerischen Pfeifenfunden vorhandenen Reliefbuchstaben mit der Abfolge von Tabakappaltoren zu korrelieren, die im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Bayern die Aufsicht über den Vertrieb von Tabak und Tonpfeifen ausübten und mit deren Initialen alle Pfeifen zu Kontrollzwecken versehen werden mussten. Damit konnte die Referentin ein wertvolles Datierungsinstrument für die chronologische Ordnung ihres Fundmaterials benutzen. Abschließend betonte sie, dass es immer noch keine archäologischen Nachweise für die - sicher vorhandene - Produktion von Tonpfeifen aus dieser Zeit in Bayern gibt.
Der Nachmittag gehörte einer Exkursion ins benachbarte Polen. S. Zuber und seine Frau Beata Zuber von der Deutsch-Polnischen Kontaktstelle Forst begleiteten die Exkursion als Übersetzer und versierte Kenner der grenzübergreifenden Region und ihrer Geschichte. In Žary (Sorau) wurde das im Aufbau befindliche historische Kabinett der Stadt besucht, wo sein Leiter Jerzy Tomasz Nowizski den Teilnehmern neben anderen Exponaten Tonpfeifenfunde von Stadtkerngrabungen vorstellte. Durch die Stadt führte ihr Wirtschaftsdezernent Ireneusz Brzezizski. Anschließend ging die Exkursion nach Lubsko (Sommerfeld) und endete mit der Besichtigung des Brühlschlosses Brody (Pförten). Zurück in Forst führte die Fahrt schließlich auf das Ostufer der Neiße, wo nach 1945 die Überreste der Stadthälfte rechts der Neiße komplett abgetragen wurden. Heute befindet sich dort eine Art moderner Wüstung, die den Exkursionsteilnehmern rechts drastisch die Auswirkungen von Politik auf Siedlungstätigkeit vor Augen führte. Der Tag schloss mit einem gemeinsamen Abendessen und einem zwanglosen Erfahrungsaustausch, bei dem die Teilnehmer die Gelegenheit nutzten, Funde und neue Literatur zu präsentieren.
Das Vortragsprogramm am Sonntag begann mit einem Referat von R. Kluttig-Altmann (2)**: "Basisarbeit. Tonpfeifen aus Fundaufarbeitungsprojekten in Sachsen und Sachsen-Anhalt", in welchem Neufunde aus Pirna, Dresden, Kamenz und Wittenberg vorgestellt wurden. Neben den bekannten holländischen Importen bzw. deren überwiegender Nachahmung befinden sich im Fundmaterial auch unter verschiedenen Gesichtspunkten ungewöhnliche Funde. Dazu gehört ein größerer (Wirtshaus-)Komplex handschriftlich signierter Pfeifen aus dem späten 18./frühen 19. Jahrhundert vom Dresdner Altmarkt ebenso wie die Hinterlassenschaften an Tonpfeifen der Türmer der Kamenzer Marienkirche über ca. 200 Jahre. Individuell geformte Beispiele aus der Gruppe der ohne Form hergestellten lokalen ostsächsischen (?) Produkte des 17. Jahrhunderts zeigten sich unter den Neufunden aus Kamenz, Pirna und Wittenberg, u. a. sog. Langhalspfeifen.
Michaela Hermann** (Augsburg) referierte anschließend über "Die Tonpfeifenfunde vom Augsburger Jakobsplatz. Oranier-Pfeifen in Bayern". Eine Serie dieses Pfeifentyps mit Wappen- und Herrscherdarstellungen von besagtem Fundplatz gab Anlass zu intensiven Nachforschungen. Die Oranier-Pfeifen, die außerhalb der Niederlande selten vorkommen, sind ein bisher singulärer Fund in Bayern, und die Referentin ging daher der Frage nach, weshalb diese teuren Rauchuntensilien ausgerechnet in der Augsburger Jakobervorstadt, einem etwas ärmeren Stadtviertel, auftauchen. Möglicherweise handelt es sich um die Hinterlassenschaft eines (Klein-)Händlers. Unter den Personen, die Ende des 18. Jahrhunderts in der Nähe des Fundorts gewohnt haben, konnte ein vielleicht dafür infrage kommender "Handelsmann" nachgewiesen werden. Insgesamt ist eine Dominanz Goudaer Produkte unter den Pfeifenfunden festzustellen, und darunter haben wiederum Stücke aus der Werkstatt des "Pfeifengiganten" Frans Verzijl den größten Anteil. Aus seiner Werkstatt stammen auch die oben erwähnten Reliefpfeifen. Aber auch der zunehmende Import aus dem Westerwald lässt sich, vor allem anhand eindeutiger Stieltexte, nachweisen.
Ruud Stam (Leiden/NL) fragte in seinem Vortrag "Wie wichtig war die Philosophie für die Herstellung von Pfeifen im 19. Jahrhundert in Gouda?"** Die gewaltigen Umwälzungen in Europa Mitte des 19. Jahrhunderts wirkten sich nicht nur in einer immer mehr technisierten Umwelt aus, auch das Denken, die geistige Welt veränderten sich rapide. Der Referent setzte diese Entwicklung in Beziehung zum Goudaer Tonpfeifenmacherhandwerk. Nachdem sich dieses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer denkbar schlechten Lage befand, wurde 1855 in einer Versammlung der Pfeifenmacher in Gouda zum ersten Mal die Notwendigkeit einer Änderung der Produktionsstrategie und einer Orientierung auf die (Welt-)Marktverhältnisse unterstrichen und verstanden. Anlass für diese neue Sicht war nicht zuletzt die sehr erfolgreiche Pfeifenproduktion in Frankreich, die sehr flexibel auf Moden und geistige Strömungen reagierte. So schaffte Gouda gerade noch den Anschluss an den Weltmarkt und erlebte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts noch einmal eine Blüte, in der vor allem größere Betriebe wie Goedewaagen und G. C. van der Want entstanden.
Carsten Spindler** (Braunschweig) stellte den Fund einer "Metallpfeife aus dem Forstenrieder Wald bei München" vor und ging hier besonders auf Fragen der Herstellung des Stückes ein. Die Pfeife wurde aus einem Stück (Messing-)Blech gefertigt. Der sanft gebogene Stiel hat eine laienhaft eingeritzte Verzierung, die an entsprechende Rollstempel bei klassischen Tonpfeifen erinnert. Als weitere stilistische Anleihe an die Tonpfeifenformen wurde ein zylindrisches Metallstück als Ferse angelötet. Kopfform und Größe so wie das gesamte Erscheinungsbild erinnern an die Tonpfeifen des 18. Jahrhunderts aus dem Westerwald.
Rainer Riechmann (Lemgo) sprach über "Feuererzeugung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Vorstellung eines pneumatischen Feuerzeugs im ländlichen Raum". Ohne Feuer kein Rauchen! Ausgehend vom Fund eines auf dem Prinzip der Luftverdichtung und -erhitzung beruhenden pneumatischen Feuerzeugs in Sabbenhausen bei Bad Pyrmont, welches ähnlich konstruiert ist wie eine Luftpumpe, gab der Referent den Zuhörern einen Exkurs über die verschiedensten Methoden zur Feuererzeugung jener Epoche. Der Erfindungsreichtum des 19. Jahrhunderts ließ verschiedene Methoden so schnell hintereinander zur Patentreife gelangen, dass sich viele davon nicht durchsetzen konnten - nicht, weil sie unpraktisch gewesen wären, sondern weil sie schon vor einer allgemeinen Durchsetzung von der nächsten, moderneren Variante abgelöst wurden.
N. Mehler* beschloss das Vortragsprogramm mit "Von ‚Pfeifenbäckern' und ‚Pfeifenmachern' - ein Beitrag zur Terminologie". Durch die für die Tonpfeifenforschung grundlegenden Publikationen M. Küglers hat der Begriff "Pfeifenbäcker" überregional eine unreflektierte Übernahme erfahren, wobei übersehen wurde, dass er nur für den Westerwald - das "Kannenbäckerland" - gültig ist. Aus diesem Grund kann man ihn auch nicht in historischen Unterlagen in anderen Regionen finden. Um terminologisch sauber zu arbeiten, schlug die Referentin vor, Hersteller von Tonpfeifen außerhalb des Westerwaldes künftig wertfrei als "Tonpfeifenmacher" zu bezeichnen.
Im Anschluss gab R. Kluttig-Altmann Bericht über Angelegenheiten des "Arbeitskreises Tonpfeifen" und des KnasterKOPF. So sprach er allen aktiv Mitwirkenden und Förderern seinen besonderen Dank aus und warb um weitere Unterstützung. Mit dem Erscheinen des neuen KnasterKOPF konnte eine durch die Umstrukturierung der Redaktion bedingte mehrjährige Pause beendet werden. Gleichwohl ist eine langfristige Zukunftssicherung der Zeitschrift noch nicht erreicht, solange Herausgabe und Redaktion ausschließlich ehrenamtlich erledigt werden, wie es nach wie vor der Fall ist. R. Kluttig-Altmann stellte abschließend Finanzierungsideen vor, mit denen der nächste geplante Band 20, der Themenband zu "Metallpfeifen", bereits 2009 erscheinen könnte.
Für die nächste Tagung des Arbeitskreises vom 23. bis 26. April 2009 haben die Kunstsammlungen und Museen der Stadt Augsburg eingeladen. Zentrales Thema der Tagung, zu der alle Interessierten herzlich eingeladen sind, werden der Tonpfeifenhandel bzw. die -herstellung von Tonpfeifen in Bayern und den angrenzenden Ländern sowie die Unterschiede zwischen Kurbayern, den Reichsstädten und anderen reichsunmittelbaren Territorien sein.

 

 


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(1) MEHLER, Natascha: Tonpfeifen in Bayern. Chronologische und historische Studien (Diss. Univ. Kiel 2007, unpubl.).

(2) Mit einem * versehene Vorträge sind bereits im KnasterKOPF 19/2007 publiziert, mit ** markierte Vorträge zur Publikation im nächsten Band 20 vorgesehen.

 

Siehe auch: Nachlese der Tagung in Forst im Forum

 

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Letzte Aktualisierung: 28.11.2013
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