Gerald Volker Grimm: Kritik der Ausstellung und Rezension zu Kurzführer und Katalog: Gandhara. Das Buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese. 1  

Die Kulturregion Gandhara liegt hauptsächlich im heutigen Pakistan. Während der Zeit der Kushanas (1.-3. Jh. n. Chr.) sind dort griechisch-römische, iranische und indische Einflüsse zu einer nie wieder erreichten Synthese verschmolzen. Die in leicht veränderter Form zuerst in Bonn, danach in Berlin und Zürich gezeigte Ausstellung ist die wohl auf absehbare Zeit größte Präsentation von Werken der Kushana-Zeit und der angrenzenden Epochen in Europa2.

Gezeigt werden vor allem Skulpturen aus Pakistan. Ergänzt werden diese archäologischen Funde aus der wichtigsten Kontaktzone des indischen und des westlichen Kulturraums der Antike durch einige Beispiele aus dem heutigen Indien und Afghanistan, sowie durch Vergleichsstücke des Hellenismus und aus dem römischen Imperium3.

Die Kunst der Kushana-Zeit ist in vielerlei Hinsicht grundlegend für die Entwicklung der buddhistischen Ikonographie. Einige heute überall in der Welt verbreitete Buddha-Darstellungen gehen letztlich auf antike Vorbilder der Gandhara-Region zurück. Wem die verschiedenen Gesten (mudras) einiger moderner oder auch mittelalterlicher Buddha-Darstellungen formelhaft und abstrakt erscheinen, dem offenbaren sie sich hier vor ihrer Kodifizierung quasi im Zustand des Entstehens. Die Gesten wirken noch unmittelbar und handlungsbezogen.

Wie kommt es etwa zu der kompliziert verschränkten Handhaltung der Dharmacakrapravartanamudra, der Geste des in Drehung-Setzens des Rades der (buddhistischen) Lehre? Der relativ späte sitzende Buddha Kat. 135 S. 212 zeigt sie noch in einfacher Form, wobei die ersten Finger der Rechten in einem gängigen Argumentiergestus zählend ausgestreckt sind. Das Spannende an dieser Figur ist jedoch ein unscheinbares Element: Am Original und in der Nahaufnahme4 erkennt man in der Linken ein kleines Kügelchen zwischen Zeigefinger und Daumen, das der Buddha gerade durch die Finger gleiten lässt. Das In-Bewegung-Setzen der Lehre ist hier durch die dargestellte Bewegung des Kügelchens unmittelbar sinnfällig verkörpert, während es bei späteren Werken nur aus einer auswendig zu lernenden aber nicht mehr handlungsbezogenen Geste heraus verstanden werden kann. Das Gleiche ist wohl auch bei einem weiteren Relief, Kat. 204 S. 276, Kurzführer Nr. 12 S. 36 f. dargestellt, nur dass sich das Kügelchen dort noch in der argumentierenden Rechten befindet, während die Linke bereit ist, es aufzufangen, sobald es im Laufe der Erläuterung die Finger hinunterrollt.

Das Plakat

Geworben wird für diese umfangreiche Ausstellung, in der zahlreiche der bedeutensten Fundstücke der Gandhara-Kultur zu sehen sind, mit einem Plakat, das in Schrägansicht zwei aus ihrem Kontext, dem zuletzt genannten Relief, isolierte nachdenkliche Bodhisattvas auf leicht bräunlich-orangenem Grund zeigt.

Derartige Bilder sind sicherlich interessant, weil man daran erkennen kann, wie antike Bildhauer perspektivische Effekte mittels der Verzerrung einzelner Körperproportionen zu erzeugen verstanden. Außerdem zeigt das nur teilweise ausgearbeitete Gewand des vom Betrachter aus rechten Bodhisattvas, dass, um Arbeit zu sparen, üblicherweise verdeckte Partien der Figur nicht ausgearbeitet wurden.

Als Plakatmotiv lösen diese um ein Vielfaches vergrößerten Nebenfiguren und der unansehliche Bildgrund , wenn man sie überhaupt wahrnimmt, eine eher negative Voreinstellung zu der Ausstellung aus. Die Assoziation zu Trödelmärkten u.ä. liegt bei der gewählten Gestaltung nahe, die bedauerlicherweise auch den Covers der begleitenden Publikationen zugrunde gelegt wurde.

Die Ausstellung

Wer sich von dem Plakat nicht abschrecken lässt, wird von der Qualität, Vielfalt und sorgfältigen Auswahl der Ausstellungsstücke überrascht sein. Einige wenige wirklich wichtige Stücke, die zu einem umfassenden Überblick über die Skulptur der Gandhara-Region fehlen, sind im Katalog abgebildet.

Wer noch zweifelt, ob sich ein Besuch der Bonner Ausstellung lohnt, kann bereits im Foyer einige schöne Aufnahmen von Felsbildern aus der Region (mit Erläuterungen zu Darstellungsinhalten und Datierung) betrachten. Im Kellergeschoss informiert ein Filmbeitrag über den Stand der politischen Lage und die Probleme, die sich durch den wachsenden Einfluss der Taliban in Pakistan für die weitere Erforschung und die Erhaltung des antiken Erbes ergeben.

Die Ausstellung wurde weitgehend im Hinblick auf einen an Werken der griechisch-römischen Antike geschulten Betrachter konzipiert. Begrüßt wird der Besucher von einer Dame mit Blumenstrauß 5, bei der nicht bekannt ist, ob es sich um die Figur einer Stifterin oder etwa die Darstellung einer Göttin handelt. Sie stammt aus dem in der Region Swat gelegenen Butkara I und wird in die 2. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. datiert. Zu dieser annähernd lebensgroßen Figur wird im Kurzführer zwar die Mischung östlich-indischer und westlicher Stilelemente angemerkt, ihre eigentliche stilistische Herkunft dürfte jedoch eher im iranischen Raum zu suchen sein. Dies ist für beinahe die gesamte Rezeption der Gandhara-Kunst typisch: Man sieht die sich teils mischenden, teils scheinbar unverbunden nebeneinander existierenden Stile des griechisch-römischen und des indischen Kulturraumes und vergisst darüber den ebenfalls maßgeblichen iranischen Einfluss, der sich schon aus der politischen Geschichte der Region herleiten lässt.

Im folgenden wird der Besucher mit einer im wesentlichen griechischen Münzreihe aus Gandhara unter Einschluss indischer und indo-skythischer Prägungen der Zeit vor den Kushanas sowie römischen Portraitkopien der hellenistischen Eroberer an das Thema herangeführt. Eine 1:1 Reproduktion des berühmten Alexanderschlachtmosaiks aus Pompeji rundet diese Einführung aus westlicher Sicht ab.

Im folgenden Raum dominiert folgerichtig zuerst die Gegenüberstellung westlicher Vorbilder (bzw. vorbildhafter Typen) und deren Rezeption in Gandhara, wobei hier noch Stücke der griechischen und indo-skythischen Zeit vor der Eroberung der Region durch die Kushanas einen großen Raum einnehmen. Wendet sich der Besucher dann nach rechts, wird er mit der einheimischen Götterwelt des nordwestlichen Indien konfrontiert. Von da aus kann er das zentrale Rondell umrunden und dabei der Chronologie der Legenden folgend das Leben und Wirken des Buddha anhand narrativer Reliefs der Kushana-Epoche (1.-3/4. Jh. n. Chr.) studieren. Im Inneren des Rondells sind einige Buddhafiguren von hervorragender Qualität zu bewundern, wobei auch die im Gegensatz zu den Werken aus Gandhara eher typisch indische Kunst aus Mathura, der Winterresidenz der Kushanas, in einem Beispiel vertreten ist.

Im linkerhand angrenzenden Teil des Raumes sind symbolische Darstellungen des Buddha und Kultgegenstände ausgestellt. In den beiden folgenden Räumen kann man verschiedene Bodhisattvafiguren und Reliefs betrachten, während der Schwerpunkt in Raum V auf die stratigraphisch gut dokumentierten Bildwerke (vor allem Reliefs und Baudekor) aus der Swat-Region gelegt wurde, deren stilistische Eigenart allerdings eine Übertragung der Forschungsergebnisse auf Kunstwerke anderer Zentren in der Gandhara-Region nicht gerade erleichtert.

In einem dahinter gelegenen Saal wird zu jeder halben Stunde ein Film zur Geschichte Gandharas ausgestrahlt. Die von Prof. Dr. Michael Jansen (RWTH Aachen) entworfenen CAD-Rekonstruktionen der Fundorte6 vermitteln jedoch ein leider bereits in den Grundzügen irreführendes Bild Kushana-zeitlicher Tempelanlagen. Hier tritt vielmehr die Divergenz zwischen einer scheinbar perfekten Visualisierung vergangener Baustrukturen und der offenbar vollkommenen Unkenntnis der seinerzeit gültigen Bauprinzipien und auch der noch heute teilweise sichtbaren Befunde offen zutage.

So wurden etwa bei verschiedenen Rekonstruktionen von Tempelanlagen (u.a. in Sirkap und Takt-I-Bahi) die Wände unverputzt dargestellt, obwohl in neueren Ausgrabungen durchweg Reste von Verputz geborgen werden konnten. Bei der Rekonstruktion der ausgedehnten Klosteranlage von Takt-I-Bahi wurde die heute zum Teil noch mehrere Meter hoch aufragenden Gliederungen der Wände unterschlagen und die ebenfalls noch jetzt gut zu erkennenden Schrägen der Toröffnungen sind durch Senkrechten ersetzt. Derartige Vergröberungen der architektonischen Sprache führen zu einem Ergebnis, das leicht mit Monumentalbauten des Dritten Reiches assoziiert werden kann.

Anstelle der sowohl in Originalfunden als auch durch Darstellungen überlieferten Baudekorformen sind einfache, von der Architektur des Zen abgeleitete Holzbalkone rekonstruiert, während die ebenfalls entgegen den Befunden ungegliederten Pilaster mit Kapitellen ostasiatischen Typs des 2. Jahrtausends nach Christus ausgestattet wurden. Ein Blick auf die Exponate (Kapitelle wie Kapitelldarstellungen) hätte genügt, diesen Fehler zu vermeiden. Zudem ist gerade dieser Frage bereits vor geraumer Zeit eine ausführliche Studie gewidmet worden7.

Dass die in die Nischen eingeblendeten Skulpturen ungefasst sind, obwohl gerade die Frage der Polychromie in mehreren Beiträgen in Katalog und Kurzführer angesprochen wird, verwundert bei diesem mit großem technischen Aufwand betriebenen Machwerk wohl nicht mehr.

An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob es nicht besser wäre, anstelle aufwendiger und kostspieliger Computeranimationen inhaltlich korrekte, auf dem Studium der Funde und Befunde beruhende Rekonstruktionen (etwa Holzmodelle) zu zeigen? Diese hätten für den Ausstellungsbesucher zudem den Vorteil, dass er selbst das Tempo bestimmen kann, in dem er die für ihn persönlich interessanten Teile eines Bauwerks betrachten kann.

In Raum VI sind vor allem kleinere Bildwerke ausgestellt, während im letzten Raum mit Originalen die Nachwirkung der Kushana-zeitlichen Skulptur anhand ausgewählter Beispiele vor Augen geführt wird.

Bevor der Besucher die Ausstellung verlässt, kann er anhand der 3D-Rekonstruktionen (RWTH Aachen) ein Bild von den berühmten, von den Taliban gesprengten Buddhafiguren aus Bamiyan machen.

Besonders positiv hervorzuheben sind die ausführlichen Erläuterungen zu den einzelnen Ausstellungsstücken, deren Informationsgehalt teilweise weit über das hinausgeht, was dem Katalog (und dort oft über mehrere Artikel verstreut) zu entnehmen ist.

Katalog und Kurzführer

Die ersten Aufsätze des reich bebilderten Kataloges 8, in den auch einige Werke aufgenommen sind, die in Bonn nicht ausgestellt werden, geben vor allem dem Laien auf dem Gebiet der indischen Kunst und Archäologie einen ersten Einblick in den Schmelztiegel der Kulturen Gandhara.

In der zweiten Aufsatzsammlung (Der Weg nach Gandhara) werden die wichtigsten Forschungsgrundlagen nach dem Stand der gegenwärtigen Erkenntnis zusammengefasst (S. 58-85); darauf folgen die Katalognummern 1-61. Der bedeutendste Beitrag der neueren Forschung zur Chronologie der Kushana-Zeit ist, dass sich Falks auf einen astronomischen Text gestützte Datierung der 1. Kanishka-Ära ab 127/128 n. Chr. mittlerweile weitgehend durchgesetzt hat. Damit kann die sogenannte mittlere Chronologie der Kushana-Ära, deren Beginn bald nach der Mitte des 1. Jh. n. Chr. anzusetzen ist, als weitgehend gesichert gelten9, während zuvor Kaniskas Regierungsantritt je nach Autor ab dem späten 1. Jh. n. Chr. bis in das frühe 3. Jh. n. Chr. angesetzt wurde.

Im dritten Kapitel (Gandharas Götter) wird der Leser an die vielfältige Götterwelt der antiken Region herangeführt. Quaglioletti spekuliert in ihrem Aufsatz10 über einige von ihr als synkretistisch interpretierte Figuren. Ab S. 135 folgen die Katalognummern 62-113.

Das vierte Kapitel (Buddhismus in Gandhara S. 164-239 mit Kat. 114-187) enthält Aufsätze zu zentralen Themen wie dem Buddhabild, Darstellungen des Buddhalebens und Reliquiaren. Unter der Überschrift „Buddhismus im Wandel“ 11 werden Fragen des sich in den Darstellungen abzeichnenden Mahayana-Buddhismus behandelt, dessen älteste archäologische Zeugnisse aus der Region stammen.

Die bedeutensten Beiträge zur Erforschung der Gandhara-Kultur sind im sechsten Kapitel vereint12. Hier sei besonders auf die fundamentierten Beiträge von Luca Maria Olivieri, Muhammad Ashraf Khan/Mahmood-ul-Hasan und Koizumi Yoshide hingewiesen, in denen wichtige Ergebnisse der archäologischen Grabungen aus den letzten Jahrzehnten zusammengefasst sind. Anhand von Christian Luczanits Aufsatz „Kunst und Architektur“ 13 kann der Leser sich ein Bild davon machen, wie die in der Ausstellung isoliert gezeigten Skulpturen in ihren ursprünglichem architektonischen Kontext eingebettet waren.

Im abschließenden 7. Kapitel14 befindet sich nur ein Aufsatz, der überaus lesenwerte Beitrag Harald Hauptmanns zur „Felsbildkunst am Oberen Indus“, in dem Werke von der Zeit der ersten Jägergruppen bis zum Mittelalter erläutert werden, während im Katalogteil Skulpturen und Malereien aus der Region und Zentralasien gezeigt werden, bei denen Elemente der Gandhara-Kunst tradiert und weiter entwickelt wurden.

Abgeschlossen wird der Band durch eine 13-seitige aktuelle Bibliographie.

Im Kurzführer15 werden nach einer knappen Einführung 18 Ausstellungsstücke sowie das 3D-Modell der RWTH Aachen zur Rekonstruktion der Buddhas von Bamiyan anhand begleitender Texte vorgestellt. Ein separater Plan der Ausstellung und eine Audio-CD mit von der gedruckten Fassung leicht abweichenden Erläuterungen in deutscher und englischer Sprache runden das wirklich preiswerte Angebot ab.

Der vielleicht größte Schwachpunkt des umfangreichen Ausstellungskatalogs ist das Fehlen von Begleittexten zu den einzelnen Ausstellungsstücken. Lediglich bei beschrifteten Werken sind in der Regel Umschrift und Übersetzung der Texte wiedergegeben. Immerhin sind einige Bildbeschreibungen im Kurzführer abgedruckt, so dass dieser nicht nur wie üblich eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung des eigentlichen Kataloges ist, sondern ein eigenständiges Werk, das den Katalog sinnvoll ergänzt.

Zu einigen problematischen Deutungen und Datierungen

Schon die vielfältige Götterwelt Indiens mit ihrer unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Ikonographie bietet oft den Anlass zu Verwechslungen und Irrtümern. Wenn noch wie im antiken Gandhara westliche Einflüsse hinzukommen, scheinen bei einem derart umfangreichen Projekt einzelne Irrtümer und Unstimmigkeiten unabwendbar zu sein. Gerade für den an der Erforschung der Gandhara-Kultur näher Interessierten mag es lohnend sein, auf einzelne problematische Deutungen und Datierungen näher einzugehen.

Andreae, eigentlich ein ausgewiesener Kenner des Hellenismus, geht erst für die Zeit 300 Jahre nach Alexanders Eroberungen (327-324 v. Chr.) von einem griechischen Element in der Kunst Gandharas aus (S. 50). Dagegen schreibt Srinivasan zurecht, dass die von den Seleukiden abgefallenen Griechen im 2. und 1. Jh. v. Chr. ihre besten Graveure mitnahmen und auch in der Ausstellung legen einzelne griechische Münzen offen, dass im baktrischen Reich seit dem 3. Jh. v. Chr. eine griechische Kunst ausgeübt wurde, die qualitativ nicht hinter derjenigen Europas und Kleinasiens zurücksteht (Kat. 5-7, 9) 16. Auch verweist Callieri (S. 60 ff.) auf hellenistische Einflüsse in den Bereichen Städteplanung, Architektur und Keramik in der Swat-Region seit dem 2. Jh. v. Chr.

Andreae verwechselt (wohl wegen der ähnlichen Darstellungsweise) Vajrapani, den legendären Beschützer des historischen Buddha, mit seinem ikonographischen Vorbild Herakles (S. 50). Die Entwicklung des Buddhabildes sieht er infolge des Kaiser-, Hindu und Jinabildes (S. 53), wobei jedoch kein Jinabild bekannt ist, das älter als die frühesten Buddhadarstellungen ist und die älteren angeblich hinduistischen Figuren, den Münzinschriften zufolge iranische Gottheiten darstellen. Dies berührt auch eine These von Cribb, dass der Kushana-Gott Oesho in der Gestalt Shivas dargestellt worden sei (S. 67, 124). Tatsächlich ist keine gesicherte Darstellung Shivas bekannt, die älter als die Kushana-zeitlichen Münzen ist. Aufgrund der Münzinschriften kann davon ausgegangen werden, dass bei den dem heutigen Shiva ikonographisch gleichenden Figuren der Gandhara-Region Oesho dargestellt ist. Ob Oesho und Shiva in der Folge miteinander identifiziert wurden oder einfach die Ikonographie des Oesho auf Shiva übertragen wurde, wäre eine zu diskutierende Frage. Schließlich geht auch Srinivasan davon aus (S. 132), dass die Shiva-Bildnisse mit einer älteren lokalen Gottheit identifiziert wurden.

Wichtig ist jedoch eine von Andreae nur am Rande getroffene Feststellung: Die kaiserzeitlichen Skulpturen von Gandhara ähneln nicht nur den römischen, es gibt auch eine parallele Stilentwicklung (S. 54).

Im Artikel von Stone „Die Adaption westlicher Motive in der Kunst von Gandhara“ wird auf Abb. 7 S. 84 eine „Reliefplatte mit trinkendem Paar und Seeungeheuer“ gezeigt. Bei den Dargestellten handelt es sich allerdings nur um zwei Personen, nämlich einen Triton und eine Nereide.

Srinivasan (Viele Kulturen, viele Götter S. 119) hält den im Katalog unten abgebildeten Ketos (Meeresdrache) in Kat. 22 S. 95 für einen Makara, also einen mythischen Alligator.

Dagegen sind auf dem elfenbeinernen Ornamentband mit Zaunmotiv Kat. 262 S. 342 keine Greifen sondern jeweils identische Vögel mit einem Paar Schlangen dargestellt. Dieser Vogel dürfte wohl am ehesten mit Garuda zu identifizieren sein. Das Gleiche gilt für eine weitere Platte aus Begram, Kat. 263 S. 343, wo zudem noch eindeutig identifizierbare Makaras dargestellt sind. Die sogenannten Yakshas dieser Elfenbeinplatte haben die Makaras an ihren blattartigen Schwänzen gepackt. Sie tragen einen von Tritonendarstellungen herzuleitenden Blätterschurz17. Beides deutet auf eine enge Verbindung zum Bereich Wasser hin, während Yakshas erdgebundene Schutzgottheiten sind. Ohne hier einen konkreten Deutungsvorschlag angeben zu können, sei auf eine ebenfalls aus Begram stammende ikonographische Parallele hingewiesen, bei der jedoch die menschlichen Beine der Groteskenfigur von den beiden Makaras verschlungen werden18.

Srinivasan (Hindu-Gottheiten in der Kunst von Gandhara) hält die Rüstung einiger wohl Skanda darstellender Figuren für westlich („fremdländischer, westlicher Kleidung“ S. 132 f.). Die Panzer der z.T. mit einem Turban (!) bekleideten Figuren sind jedoch typisch reiternomadisch und dürften eher eine nord-östliche Tradition der Vorfahren der Kushanas weiterführen.

Das in Bonn ausgestellte Exemplar der an einen Pfeiler gelehnten, sogenannten „Aphrodite“ aus Sirkap, Block E (sq.77.65’, Stratum II) ist nicht nur stratigraphisch in das 1. Jh. n. Chr. datiert, sondern auch ikonographisch von Belang19. Während nämlich andere Exemplare desselben Figurentyps Vogelflügel aufweisen20, ist dieses Goldschmiedewerk mit Schmetterlingsflügeln ausgestattet. Insofern gleicht sie ikonographisch einer an eine Säule gelehnten römischen Psyche21. Wenn man diese ikonographische Herkunft bedenkt, muss man für die etwas volleren Gesichts- und Körperformen der Figur auch nicht, wie im Kurzführer geschehen, eine Verschmelzung östlicher und westlicher Elemente postulieren. Die etwas rundlichere Gesichts- und Bauchbildung erklärt sich ganz zwanglos dadurch, dass Psyche üblicherweise als pubertierendes Mädchen dargestellt wurde. Gerade die noch wenig ausgeprägten Brüste deuten dies an, während Frauen schon im antiken Indien bevorzugt mit sehr deutlich ausgeformten Brüsten dargestellt wurden22.

Dagegen muss das im Katalog hypothetisch mit Amor und Psyche identifizierte Liebespaar23 gerade wegen der fehlenden Attribute als Darstellung normaler Menschen betrachtet werden. Das Sujet Liebespaar war bereits zu dieser Zeit sowohl im griechisch-römischen als auch im indischen Kulturraum durchaus populär und bedurfte keiner Überhöhung, um darstellungswürdig zu werden.

Zu der sogenannten „Mathura-Durga“ des 2. Jahrhunderts (Kat. 113, S. 161) ist zu konstatieren, dass Srinivasan aus dem von ihr richtig erkannten Befund, dass die zusätzlichen Arme und die Durga-Attribute auf späteren Umarbeitungen beruhen (S. 133), nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen hat. Es handelte sich ursprünglich eben nicht, wie von ihr angedeutet, um eine frühe Durga-Darstellung, sondern wahrscheinlich um eine Mathura-Variante der iranischen Göttin Nana, deren ursprüngliche Attribute (Löwe als Reittier, Banner und Reif) aufgrund der dilettantischen Umarbeitungen noch immer erkennbar sind. Dies bestätigt indirekt sogar Srinivasans mit einer Stelle aus dem Mahabarata auch textlich untermauerte These (S. 133), dass die Tötung des Büffeldämons in der Kushana-Zeit noch nicht der Durga, sondern dem Kriegsgott Skanda attribuiert wurde.

Die allgemein als „Weibliche Statuette mit entblößtem Bein“ titulierte Figur Kat. 66 S. 139 entspricht exakt dem griechischen Nike-Schema, das auf die Kushana-Siegesgöttin Oanindo (vgl. Kat. 86 S. 148) übertragen wurde. Reste des rechten Flügels haben sich noch erhalten. Es handelt sich also eindeutig um eine Darstellung einer Siegesgöttin.

Der lagernde Flussgott Kat. 71 S. 142 wird im Katalog ins 1.-2. Jh. n. Chr. datiert. Im Kurzführer (S. 17, Nr. 4) wird zudem bemerkt, dass diese Ikonographie im indischen Raum ungewöhnlich ist, da dort weibliche Flussgottheiten üblich sind. Betrachtet man die Figur genauer, fallen bedeutende stilistische Unterschiede zu kaiserzeitlichen Flussgottdarstellungen auf. Die Frisur, der breite, muskulöse, aber eher flau gegliederte Körperbau, der rundliche hervorstehende Bauch und die gelängten Proportionen entsprechen dagegen hellenistischen Figuren. Der qualitativ weit überlegene Nil der Tazza Farnese24 und die Nilstatuette in Stuttgart sind die engsten stilistischen Parallelen. Das Stuttgarter Exemplar (2. Jh. v. Chr. 25) weist noch Anklänge an die schwellenden Körperformen des Hochhellenismus auf, während die Figur der berühmten Gemme nunmehr um 100 v. Chr. datiert wird26. Die Frisur, Kopf- und Körperbildung des in die erste Hälfte des 1. Jh. v. Chr. datierten Kentauren einer anderen Gemme27 entspricht denjenigen unseres Flussgottes sogar noch weit eher, so dass es sich hier um eines der wenigen Beispiele eines gelagerten Flussgottes aus der Zeit des Späthellenismus handelt.

Auch die Spätdatierung des Reliefs aus Zar Dheri und der männlichen Büste aus Butkara I in die 1. Hälfte des 2. Jh. n. Chr. im Katalogteil (Kat. 215 S. 322, Kat. 217 S. 323) ist unverständlich, da beide von Yoshihide mit guten Gründen um die Wende des 1. Jh. v. zum 1. Jh. n. Chr., jedenfalls in die Frühzeit der Gandhara-Skulptur datiert werden (vgl. S. 313) 28.

Problematisch erscheint auch die Deutung von Kat. 289 S. 364 als „Bodhisattva Maitreya mit Stupa in der Krone“. Die frühmittelalterliche Figur trägt in der linken einen geöffneten Lotos, während die Rechte die Geste des Wunschgewährens (varada-mudra) ausführt. Diese Haltung ist typisch für Avalokiteshvara-Figuren29, kommt aber gelegentlich auch bei Figuren des Manjushri oder Padmapani vor30, während für Maitreya neben dem Fläschchen, bzw. später zusätzlich dem Stupa (auf einer Lotospflanze, am Sockel oder in der Krone) als Attributen die Dharmacakrapravartana-, Vitarka- und/oder Abhaya-Mudra üblich ist. Die angebliche Stupa-Darstellung in der Krone befindet sich in einer weitgehend abgewitterten Partie. Erkennbar ist die originale Oberfläche nur am unteren Teil der halben Mandorla mit einem Lotos-Sockel. Gut zu erkennen ist dagegen der etwas tiefer liegende profilierte Rand der Mandorla. Jedoch ist noch genug Stein im oberen Bildfeld erhalten, um eine Stupa-Darstellung auszuschließen: Es ist einfach nicht genug Platz für die Ehrenschirme (bhumikas). Folglich dürfte es sich bei der Stirnplatte der Krone um die Darstellung eines meditierenden Buddha handeln, der wie der Lotos ein Attribut des Avalokiteshvara ist, aber auch bei anderen Bodhisattvas vorkommen kann.

Fazit:

Sowohl der Besuch der Ausstellung als auch die beiden begleitenden Schriften sind jedem empfohlen, der sich für die frühe indische Kunst, die Genese des Mahayana oder das östliche Ende der römisch-hellenistischen Kulturzone interessiert. Im Westen dürften in den nächsten Jahrzehnten vergleichbare Werke dieser Zeit aus Pakistan in dieser Fülle und Qualität wohl nicht mehr zu sehen sein. Der Katalog gibt einen fundierten Überblick über den Stand der Forschung, und vor allem das aktuelle und umfangreiche Literaturverzeichnis sucht seinesgleichen. Die gute Abbildungsqualität macht den Katalog zudem zu einem das Auge erfreuenden Bildband.

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1 Empfohlene Zitierweise: Gerald Volker Grimm: Kritik der Ausstellung und Rezension zu Kurzführer und Katalog: Gandhara. Das Buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese. Bonn 2009. http://www.bhsg.uni-bonn.de/gandhara.html

Bitte setzen Sie beim Zitieren dieser Ausstellungskritik und Rezension hinter der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse in runden Klammern ein.

2 21. November 2008 bis 15. März 2009 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, vom 9. April bis zum 10. August im Martin-Gropius-Bau, Berlin und vom 6. September 2009 bis 3. Januar 2010 im Museum Rietberg, Zürich.

3 Im folgenden wird aus Gründen der html-Programmierung auf die Wiedergabe von Umschriftzeichen verzichtet.

4 Beitrag Bautze-Picron Abb. 2 S. 181.

5 Kat. 43 S. 104, Kurzführer 1 S. 8 f.

6 s. Kat. S. 11.

7 V. Thewalt: Stützelemente und ihr Schmuck in der Architektur der Kusana-Zeit. (Phil. Diss.), Bonn 1982.

8 Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (hrsg.)/ Ch. Luczanits (wissenschaftliche Red.): Gandhara – das buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese. Bonn/Mainz 2008 (378 S., zahlreiche Abb.), ISBN: 978-3-8053-3916-2 (Buchhandelsausgabe) bzw. ISBN: 978-3-8053-3916-8 (Museumsausgabe) S. 16-55. Ein vollständiges Inhaltsverzeichnis des Katalogs findet sich unter: http://www.zabern.de/pdfs/3916_i.pdf (20.02.2009).

9 Kaniska war der Urenkel von Kujula Kadphises, dem Begründers der Kushana-Dynastie. Vgl. auch den Beitrag von J. Cribb im Katalog S. 66 f., der für die ersten drei Kushana-Herrscher folgende Daten aufführt Kujula Kadphises: 76 und 90 n. Chr., Vima Takto: 105 n. Chr., Vima Kadphises 113 n. Chr.; J.E. Dawson in: R.C. Sharma/J.E. Dawson: Anmut und Askese. Frühe Skulpturen aus Indien. Berlin 2003 S. 42 ging zwei Jahre nach der Publikation von Falks Thesen noch von einem Beginn der Kanishka-Ära um 78 n. Chr. (Beginn der ´Saka-Ära) aus, während in der Zeittafel desselben Bandes schon auf Falks Ansatz um 127 verwiesen wurde (ibid. S. 118); Dagegen nimmt K.-H. Golzio: Gandhara. Im Schmelztiegel des Hindukush; in: Antike Welt 6/2008 S. 62-65, hier S. 64 f. eine Regierungszeit Kaniskas I. von 155-179 n. Chr. an, obwohl er weitere Belege für die Regierungszeit der ersten Kushanas spätestens ab 65 n. Chr. aufführt, was zu unglaublich langen Regierungszeiten der ersten drei Kushana-Könige führen würde.

10 In den Buddhismus integrierte Gottheiten S. 126-129.

11 S. 242-279 mit Kat. 188-210.

12 Städte und Klöster S. 282-349 mit Kat. 211-278.

13 S. 314-317.

14 Gandharas Erbe S. 352-367 mit Kat. 279-292.

15 O. Gustke/U. Vorwerk: Kurzführer. Gandhara. Das buddhistische Erbe Pakistans. Legenden, Klöster und Paradiese. Bonn 2008 (59 Seiten, über 20 Abb.); CD: Produzent: Lutz Oldenmeier; Regie Mingus Ballhaus, Steffi Herrmann; Sprecher: Nina West (deutsch), Jonathan C. Sloane (englisch). Dagegen zeigen die indogriechischen Münzen des ersten Jahrhunderts v. Chr. (Kat. 10 f.) deutliche Anzeichen einer Vergröberung.

16 Dagegen zeigen die indogriechischen Münzen des ersten Jahrhunderts v. Chr. (Kat. 10 f.) deutliche Anzeichen einer Vergröberung.

17 Vgl. T. Kraus: Das römische Weltreich. Propyläen Kunstgeschichte 2. Berlin 1967 Abb. 174 a (Domitius-Ahenobarbus-Ara, um 115-100 v. Chr.).

18 F. Hiebert/P. Cambon (hrsg.): Afghanistan. Hidden Treasuries from the National Museum, Kabul. Washington D.C. 2008 Nr. 151 S. 164.

19 Kat. 25 S. 98, Kurzführer Nr. 2 S. 12 f., derartige Figuren werden auch als baktrische bzw. Kushana-Aphroditen beschrieben.

20 Grundzüge des Haltungsschemas und der Gewandung sind identisch. F. Hiebert/P. Cambon (hrsg.): Afghanistan. Hidden Treasuries from the National Museum, Kabul. Washington D.C. 2008 Nr. 135 S.288 aus TillyaTepe Grab VI, 2. Viertel 1. Jh. n. Chr. Bei einer weiteren Gruppe (Hiebert/Cambon 2008 Nr. 60 S. 245) ist die Figur mit einem Eroten vereint. Die Flügeldarstellung ist etwas indifferent und kann als Schmetterlings- wie als Vogelflügel gelesen werden.

21 LIMC VII Psyche 6.

22 Neben einigen Trachtdetails gibt auch der wenig feminine Körperbau von Kat. 211 S. 321 Anlass dazu, die Deutung als Stifterin nochmals zu überdenken.

23 Kat. 29 S. 98.

24 Abb. siehe: http://sights.seindal.dk/photo/9234,s1083f.html (20.02.2009).

25 S. Klementa: Gelagerte Flußgötter des Späthellenismus und der römischen Kaiserzeit. Köln/Weimar/Wien 1993 S. 195.

26 S. Klementa: Gelagerte Flußgötter des Späthellenismus und der römischen Kaiserzeit. Köln/Weimar/Wien 1993 S. 39.

27 LIMC VIII Kentauroi et Kentaurides 336, S. 699.

28 Das Gleiche gilt möglicherweise auch für das im Katalog ins 1.-2. Jh. datierte Relief Kat. 38 S. 102, das u.U. ebenfalls zu derselben Gruppe aus Zar Dheri gehört (vgl. S. 313).

29 Vgl. etwa: D. E. Klimburg-Salter: Buddha in Indien. Die frühindische Skulptur von König Asoka bis zur Guptazeit. Wien 1995 Kat. 213; D. Paul: The Art of Nalanda. Development of Buddhist Sculpture AD 600-1200. New Delhi 1995 Taf. 34, 46, 69; M. Ghosh: Developmnet of Buddhist Iconography in Eastern India: A Study of Tara, Prajnas of five Tathagatas and Bhrikuti. New Delhi 1980 Abb. 6, 16.

30 Vgl. etwa D. Paul: The Art of Nalanda. Development of Buddhist Sculpture AD 600-1200. New Delhi 1995 Taf. 7 f.


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